Hisbollah: Verstolpert in der eigenen Propaganda

Analyse

Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah liebt markige Worte. Doch tatsächlich hat die Terrororganisation kein Interesse an einer unkontrollierbaren Eskalation des Israel-Kriegs.

3. November 2023, Beirut, Libanon: Ein Mann hält ein Bild von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah während Nasrallahs live gestreamter Rede.

Dieser Artikel wurde zuerst bei ZEIT Online veröffentlicht.


Knapp vier Wochen nach den barbarischen Angriffen der Hamas in Israel meldete sich am vergangenen Freitag erstmals der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, zu Wort. In seiner mit Spannung erwarteten Freitagsansprache sparte er keine der zu erwartenden Propagandafloskeln und zynischen Verzerrungen aus, lobte sich selbst dafür, dass die Hisbollah israelische Kräfte an der Nordgrenze binde und erklärte die Grausamkeiten der Hamas zu Heldentaten. Die Angriffe seien jedoch "zu 100 Prozent" eine palästinensische Angelegenheit.

Was er nicht sagte: Dass die "Achse des Widerstands", wie Nasrallah die erklärten Feinde Israels bezeichnet und an deren Spitze er sich gerne sieht, nun in Bewegung gerate und angreife.

Er wiederholte nur in anderen Worten, was die iranische Führung bereits zuvor gesagt hatte: Sie unterstütze die Hamas zwar finanziell und politisch, mit dem Überfall vom 7. Oktober habe sie jedoch nichts zu tun. Die Anschläge seien "geheim" geplant worden, fügte Nasrallah hinzu.

Die drastische Vergeltung war nicht einkalkuliert

Die Verantwortung am Geschehen weit von sich zu weisen, mag politisches Kalkül sein. Angesichts der gewaltigen Gegenoffensive Israels, vorbehaltlos unterstützt von den USA und europäischen Regierungen, dürfte beiden nicht daran gelegen sein, selbst stärker ins Visier zu rücken. Doch vieles spricht tatsächlich dafür, dass Hamas auf eigene Faust gehandelt hat. Und dass die grauenhaften Massaker, die völlige Überrumpelung der israelischen Sicherheitskräfte auch für die Hamas selbst überraschend waren, was wiederum erklären würde, warum die drastische Vergeltung Israels im Kalkül der Hisbollah nicht eingeplant war. Wäre es, koordiniert von Iran, darum gegangen, Israel mit voller militärischer Schlagkraft zu begegnen, wäre zu erwarten gewesen, dass Hisbollah im gleichen Moment eine zweite Front eröffnet.

Derweil ist der Druck auf die Hisbollah groß: Sie bezieht einen wesentlichen Teil ihrer innenpolitischen Selbstrechtfertigung aus ihrem Kampf gegen Israel. Sie selbst bezeichnet ihn als "Widerstand" und behauptet, so eine wichtige Rolle weit über den Libanon hinaus einzunehmen. Angesichts dessen, dass die Hamas zu diesem Zeitpunkt bereits von mehr als 9.000 Toten im Gazastreifen sprach, waren die Befürchtungen groß, dass Nasrallah nun den befürchteten "Flächenbrand" im Nahen Osten ausrufen würde. Dass er dies nicht getan hat, zeigt, dass das Konfliktverhalten weitaus mehr Schattierungen aufweist, als die oft vollmundigen Bekundungen vermuten lassen.

Das Verhältnis zwischen Hamas und Hisbollah ist von Zerwürfnissen und Misstrauen geprägt, seit sich die Hamas 2012 gegen das syrische Regime stellte – und damit auch gegen Hisbollah und Iran, die ihren Verbündeten Baschar al-Assad unbedingt an der Macht halten wollten. Während die Hisbollah den Diktator Assad gegen seine eigene, rebellierende Bevölkerung verteidigte, ließ Assad unter anderem das größte palästinensische Flüchtlingslager in Syrien, Yarmouk, in Trümmer bomben.  

2017 machte die Hamas unter neuer Führung und in Geldnot eine Kehrtwende und näherte sich der Hisbollah und Iran wieder an. Beide Organisationen sind für das Regime in Teheran von völlig unterschiedlicher Bedeutung: Als militante Palästinenserorganisation direkt ans Israels Südgrenze dient die Hamas der iranischen Propaganda und wird deswegen finanziell unterstützt.  Aber für die großen Kriege im Irak, in Syrien und im Jemen war die Hisbollah der militärische Spielmacher, der sein gigantisches Netzwerk von Milizen aufgebaut und sunnitische Metropolen wie Aleppo in Syrien oder Mosul im Irak unter Kontrolle der schiitischen Herrscher in Teheran gebracht hat. Die unmittelbare geografische Nähe zu Israel, verbunden mit einem riesigen, technisch elaborierten Waffenarsenal macht sie zu einem gefährlichen Gegner selbst für Israels Streitkräfte. Seit ihrem Engagement in Syrien verfügt die Hisbollah über Erfahrungen im Bodenkampf wie keine andere bewaffnete Gruppe der Region.

Zu wertvoll für Teheran

Für das iranische Regime spielt die Hisbollah in Bezug auf Israel eine zentrale Rolle: abschreckend genug zu sein, dass Israel die iranischen Nuklearanlagen nicht angreift. Das macht sie für Teheran offenbar zu wertvoll, um sie jetzt für die Folgen einer nicht koordinierten Attacke der Hamas aufs Spiel zu setzen.

Nur muss sich die Hisbollah nun an ihrer vollmundigen Rhetorik messen lassen. Symbolisch bedeutungsschwer traf sich Nasrallah am 23. Oktober – dem 40. Jahrestag des Hisbollah-Anschlags auf einen US-Stützpunkt in Beirut, bei dem 241 US-Amerikaner starben – mit Vertretern der Hamas. Aber nicht, um dem immer lauteren Rufen der Hamas nach einer "Vereinigung der Schlachtfelder" zu folgen, sondern, um die "nächsten Schritte" zu besprechen und den allgemeinen Ernst der Lage zu betonen. Auch der gegenseitige Beschuss, zumeist mit Mörsergranaten, zwischen den israelischen Streitkräften und der Hisbollah klingt zwar nach Krieg. Er sieht auch aus wie Krieg, aber bewegt sich dennoch im Rahmen der kontrollierten Vergeltung, wie sie seit Jahren immer wieder geschieht.

Während beide Seiten, die Hisbollah und Israel, davon sprechen, die jeweils andere vernichten zu wollen, sind sie sich nachweislich dessen gewahr, welchen Preis ein Angriff jenseits der ungeschriebenen roten Linien hätte. Israel müsste damit rechnen, dass Salven von Raketen ihre Flugabwehr überfordern und Ziele im ganzen Land verheerend treffen würden. Die Hisbollah beansprucht für sich, mit Angriffen auf israelische Ziele im Jahr 2000 nach 28 Jahren den Rückzug Israels aus dem Südlibanon erzwungen zu haben. Bei israelischen Luftangriffen infolge der Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah 2006 wiederum starben nahezu 1.200  Menschen im Libanon. Die flächendeckende Zerstörung von Infrastruktur versetzte der Wirtschaft des Landes einen empfindlichen Schlag.

Seither sind beide Seiten darauf bedacht, eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden. Zu ihren informellen Regeln gehört, möglichst wenige Menschenleben zu gefährden. Die Hisbollah greift bevorzugt dünn besiedelte Gegenden an. Nach den jüngsten Angriffen auf das die im Norden Israels gelegene Stadt Kiryat Shmona, bei denen zwei Personen verletzt worden sind, hat Israel die Gegend evakuieren lassen. Dass die IDF (Israel Defence Forces, das israelische Militär) ihrerseits Gefechtsposten der Hisbollah unmittelbar vor dem Angriff kontaktiert, damit sie diese räumen, ist ebenfalls nicht unüblich.

All das ist keine Garantie dafür, dass eine regionale Eskalation ausbleibt. Gerade, wenn sich die Lage in Jerusalem oder im Westjordanland zuspitzen sollte, könnten beide Seiten härter zuschlagen. Dann wäre eine extreme Eskalation innerhalb von Minuten möglich: Wenn beide Seiten mit einem Frontalangriff rechnen, wenn Israel die Raketenbasen der Hisbollah treffen und diese ihre Raketen abfeuern will.

Assads militärisches Überleben ist abhängig von Iran und der Hisbollah

Bevor die beiden militärischen Schwergewichte allerdings direkt gegeneinander antreten, könnte ein anderes Land als Austragungsort einer verschärften Konfrontation benutzt werden: Syrien. Ließ Syriens Diktatur früher vom Libanon auf Israel schießen oder dessen Truppen dort bekriegen, haben sich die Machtverhältnisse heute umgekehrt. Assads militärische Überleben ist abhängig von Iran und der Hisbollah. In Beirut wird heute schon halboffen über Angriffe von Syrien aus auf Israel gesprochen. Umgekehrt greift Israel seit Jahren iranisch befehligte Milizen und Versorgungsrouten der Hisbollah in Syrien an. Hunderte Male hat Israel seit 2011 Ziele in Syrien bombardiert – ohne Folgen.